REthinking: Law (bis Ausgabe 4/2023)
Game Changer Legal Tech
Wie wir Rechtsdienstleistungen verändern und dabei selbst die Alten bleiben

Game Changer Legal Tech

Wie wir Rechtsdienstleistungen verändern und dabei selbst die Alten bleiben

Dr. Friederike S. Bornträger

Legal Tech einzuführen ist nicht nur eine besondere Maßnahme, sondern eine Transformation, in der sich fast alles ändern wird: Angebote, Abläufe, Ausbildung. Zahlreiche Prozesse und Verfahrenswege, von denen uns die Gewohnheit Glauben machen möchte, dass sie so und zwar nur so existieren können, werden wir verändern. Was bleibt dabei unangetastet? Was bleibt gleich? Die Schwerkraft, der Wettbewerb und wir – unser Organismus. Dieser ist zu unserem Glück gleichbleibend in der Lage, sich an neue Situationen anzupassen. Ob das schnell und effektiv gelingt, ob eine Person den Wandel erfolgreich vorantreibt, hängt nicht nur von der Person, ihrer Veranlagung und ihrer Erfahrung ab. Eine entscheidende Rolle spielt dabei der Kontext, in dem der Wandel vollzogen wird. In diesem Fall ist das die jeweilige Organisation, die Kanzlei, das Unternehmen, die Behörde. Eine auf den Menschen optimal ausgerichtete Organisation erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeit des Entwicklungsprozesses, weil sie Nährboden für unsere Neugier, Kreativität, Motivation und Innovationskraft sein kann. Oder eben Nährboden für unsere Angst und unseren Stillstand.

Legal Tech, das ist die Digitalisierung und Industrialisierung von Rechtsdienstleistungen. Wer damit zu tun hat, tut gut daran, sich mit neuen Produkten und Technologien auseinanderzusetzen. Und zusätzlich lohnt sich die Auseinandersetzung mit dem eigenen Auseinandersetzen. Was heißt das? Es heißt, sich darüber Gedanken zu machen, wie man sich Gedanken macht, wie man sich fühlt, wie man sich typischerweise verhält – und ob das auf andere Weise nicht leichter oder besser wäre.

Klassischerweise analysiert man, wie es den Beteiligten geht, wer mit wem wie spricht und wer sich traut, welche Fragen zu stellen. Denn Wohlbefinden beeinflusst unsere Gesundheit, unsere Schaffenskraft und unsere Beziehungen. Mehr Perspektiven, klug zusammengebracht, erhöhen Qualität und Robustheit der Entwicklungen. Und Offenheit, Mut und Angstfreiheit sind wichtige Bedingungen für Innovationskraft. Auf diesem Weg kann man herausfinden, welche Kontextfaktoren zu Wohlbefinden, Kooperation und Innovation beitragen und kann seine Organisation so entwickeln, dass diese Faktoren Normalität werden.

Der Trend der Organisationsentwicklung geht zur Nutzerorientierung. Wir begreifen langsam, dass die Organisationen am erfolgreichsten sind, die den ganzen Menschen mitdenken und die optimal auf ihn (uns) ausgerichtet sind. Wichtig ist: Dabei muss uns klar sein, dass es um weit mehr geht als um Arbeitsplatzergonomie.

REL 00/2018 S. 63

Ein Beispiel ist der Umgang mit Unsicherheit. Ein Wandel, wie Legal Tech ihn darstellt, ist ein außergewöhnlicher und er bringt ungewohnt viel Unsicherheit mit sich. Unsicherheit ist nicht gerade der angenehmste Zustand und wird sehr gerne entweder ignoriert oder abgewertet. Wer unsicher ist, wird schnell mal als schwach wahrgenommen (und schwach als schlecht). Dabei kann Unsicherheit ebenso wie Angst wichtige Informationen liefern. Je besser man die Unsicherheit wahrnehmen und je klarer man sie benennen kann, desto mehr lässt sich über ihre Quellen lernen und damit über einen konstruktiven Umgang. Dass Wahrnehmen und Benennen mächtige Instrumente sind, haben sich Religionen und Roman-Autorinnen schon zunutze gemacht. Wer richtig mächtig sein möchte, verbietet, sich beim Namen nennen zu lassen. Du weißt schon wer 1 pflegt das beispielsweise so. Aber wieso sollten wir uns von unseren Wahrnehmungen überwältigen lassen und nicht selbst die Macht über sie haben?

Kennen Sie auch noch Menschen, die sagen, Emotionen hätten im Geschäftsleben nichts verloren? Sind Sie der Meinung, dass, wer auch immer das sagt, schon mal richtig konzentriert über diesen Satz nachgedacht hat? Wie soll denn das gehen? Den über tausende Jahre weiterentwickelten Organismus für die Zeit, die wir im Büro verbringen, mal eben zu ändern? Die Evolution lacht über Kant, das möchte ich wetten. 2

Wer sensibel wahrnehmen und präzise benennen kann, was der eigene Organismus alles an Informationen (Wahrnehmungen) und Möglichkeiten (Verhalten) anbietet, kann selbstbestimmt – und damit aufgeklärt – handeln. In einer modernen Organisation ist Platz für solche Themen.

Mit der nahenden Fußball-Weltmeisterschaft bieten sich Fußballvergleiche an. Wären Rechtsdienstleistungen ein Fußballspiel, wäre Legal Tech vielleicht ein neuer Ball, der teilweise selbst spielt. Der selbst erkennt, welche Pässe jetzt vielversprechend wären und – geschickt angetrieben – von sich aus auf das Tor zurollen. Um weiter erfolgreich zu spielen (Rechtsdienstleistungen anzubieten), würde man selbstverständlich versuchen, den besten Ball (das beste Produkt) zu entwickeln. Aber das genügt eben nicht. Denn mit einem solchen neuen Ball entstehen zahllose Fragen im ganzen System:

Wie trainiert man denn jetzt? Und was? Wodurch wird man jetzt zum Star? Was ist mit den alten Stars? Was sagen die Fans? Gibt es überhaupt noch Profis oder machen jetzt alle irgendwie mit? Worüber reden die Kommentator*innen? Was ist mit den Machtstrukturen im Verein? Den Einschaltquoten? Wie entwickelt sich die Stellung der Bundesliga in der Gesellschaft?

Ein neuer Ball ändert alles. Legal Tech bringt nicht nur neue Produkte. Legal Tech is a game changer. Um erfolgreich zu sein, müssen nicht nur neuartige Rechtsdienstleistungen und Technologien erfunden (und geprüft und eingeführt und vermarktet und weiterentwickelt) werden, sondern auch das Bewusstsein dafür erlangt werden, welche Veränderungen das in unserem Arbeitsalltag mit sich bringt.

„Organisationen entwickeln“ – was heißt das? Eine Antwort ist: Organisationen bestehen aus Menschen. Ein guter nächster Schritt ist: Aufmerksamkeit auf uns selbst beziehungsweise auf alle Stakeholder zu richten, sich für die Menschen, die den Wandel machen oder davon betroffen sind, zu interessieren. Die (wir) sind seit Jahrhunderten dieselben und ihre „Funktionsweise“ ist gut untersucht. Wer optimale Kontextbedingungen für sie schafft, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass das Beste, was sie geben, auch wirklich gut ist. Wer ein Bewusstsein für die menschliche Dimension entwickelt, kann aktiv gestalten und muss sich nicht auf den Zufall, die gute Fügung oder vereinzelte Held*innen verlassen.

Wäre die Transformation wirklich ein Fußballspiel und Sie eine*r der Spieler*innen. Was würden Sie nach dem Sieg vor den Kameras sagen? Vielleicht ja so etwas wie: „Auf dem Platz spielen viele Dinge eine Rolle. Wir hatten Torhunger, Teamgeist und tolle Fans.“ Das zeigt: Um vorne mitzuspielen, reicht es nicht, den besten Ball zu haben. 

Fußnoten

Im Original „You know who“, Lord Voldemort aus J. K. Rowlings Harry Potter. Harry, der sich als einer der wenigen traut, den Namen des Bösewichts auszusprechen, besiegt ihn am Ende.

Man übe Nachsicht mit der Autorin bezüglich dieser unzulässigen Überspitzung. Sie soll weder Kants aufklärerische, von ihr sehr geschätzte Leistung noch die Bedeutung und das Potenzial des menschlichen Verstandes schmälern.